
Ist der Mann von allen guten Geistern verlassen? Ich starrte meinen Ressortleiter Hürzi an, der sich grinsend neben meinem Pult aufgebaut hatte. «Ruthle», beschied er mir, «du fliegst nach Stockholm an den Eurovision Song Contest.» Auf meinen Einwand, das sei ja wohl kaum ein geeignetes Thema für unser seriöses Nachrichtenmagazin «Facts», meinte Hürzi im Weggehen nur: «Cyprussss twelve Points. Es wird dir gefallen.»
Hürzi behielt recht. Die nächsten zehn Jahre ging ich sechsmal an den Concours. Ich erfuhr einiges über kulturelle Macken und Geschmäcker, über grenzüberschreitende Animositäten und ebensolche Freundschaften. Und bis heute gibt es im Vorfeld dieser Nabelschau der europäischen Nationen immer irgendwo ein Gezänk.
Arab-Italo go go go!
Diesmal in Italien, vertreten durch einen gewissen Mahmood mit dem Song «Soldi» (Geld). Prägnante Stimme, markige Melodie – und im italienischen Text eine arabische Zeile: «Waladi Waladi Habibi Ta’aleena». Heisst wohl so viel wie «Mein Sohn, mein Schätzchen, komm her» und bezieht sich auf seinen Vater.
Mahmood gewann das Festival von Sanremo und qualifizierte sich so automatisch für Tel Aviv. Worauf es in seinem Heimatland schrill wurde. Was, der? Der ist doch gar kein richtiger Italiener! Weg mit diesem Araber! Mahmood wurde in Mailand geboren und wuchs dort auf. Seine Mutter kommt aus Sardinien. Aber der Vater ist Ägypter. Skandal!
Heisst das, die Herkunft der Mutter gilt weniger als jene des Vaters? Oder des Grossvaters? Das italienische Dorf Pacentro ernannte Madonna Ciccone zur Ehrenbürgerin. Die Queen of Pop setzte dem Vernehmen nach noch nie einen Fuss in das Kaff in den Abruzzen. Aber ihre Grosseltern väterlicherseits stammen von dort. Das gilt.
Helvetier, Römer, Alemannen
Wir Schweizer, ein Mischvolk, seit Orgetorix 58 v. Chr. bei Bibracte von den Römern auf die Mütze bekam, annektieren auch gerne Promis mit Schweizer Ahnen. Von Renée Zellweger über Cindy Lauper bis Ben Roethlisberger. Und der Hollywood-Star James Brolin wurde als Craig Kenneth Bruderlin geboren. Im Fall. Die ü-Pünktchen seien ihm geschenkt.
Ab wann empfinden wir einen Schweizer als Schweizer? Wenn er einen roten Pass hat? Wenn er oder sie Schweizerdeutsch spricht? Wann gilt ein Italiener als Italiener? Nach der Regel der heutigen Römer, gemäss der sich jemand erst nach sieben Generationen «Romano-Romano», echter Römer, nennen darf? Die spinnen doch.
Sogar die Blochers sind erst seit fünf Generationen in der Schweiz. Und wie werden einzelne fremde Fötzel im Stammbaum gewichtet? Man zeige mir einen Schweizer, der keinen hat. Meine Grossmutter mütterlicherseits war aus dem Schwarzwald. Eine Deutsche, ui! Und die Mutter von Roger Köppels Kindern wurde in Vietnam geboren. Sind die drei Kids deswegen keine «richtigen» Schweizer? Bitte. Nicht im Ernst, oder?
Luca, Alessandro, Duncan
Mahmood ist übrigens der Nachname. Mit Vornamen heisst er Alessandro. Wir schicken auch einen mit italienischem Vornamen: Luca. Dessen Eltern, die Hännis, sind beide Deutschschweizer. Unser Song «She Got Me» hat deutlich orientalische Einflüsse, und Jung-Hänni macht im Video auf Latino. Sehr gekonnt, übrigens.
Die Wettbüros sehen Duncan Laurence auf Platz eins, das Sensibelchen mit dem blutten Füdli aus den Niederlanden. Dahinter folgen der pompös leidende Russe Sergei Lasarew, unser geschmeidiger Berner Giel Luca Hänni – und der etwas sperrige, aber authentische Italiener Mahmood. In bocca al lupo – viel Glück. Ich werde für Alessandro anrufen.
Die beste Website zum ESC: www.songcontest.ch
Video zum Thema: https://songcontest.ch/lieder/2019-italien-mahmood-soldi/
Dieser Text erschien am 23. April 2019 im Tages-Anzeiger Blog «Michèle & Friends» https://blog.tagesanzeiger.ch/mw/index.php/2934/orientalische-note-am-eurovision-song-contest/
Brava!