Hi 55

Ein Blog für Leute über 50 – und solche, die es werden wollen

  • Startseite
  • Trends
  • Money
  • Essen
  • Männer
  • Vermischtes
  • Tipps

Wütende Frauen, solidarische Männer

26. Oktober 2017 von SistaR

Neulich am HB Zürich hockt am Eingang zum Café ein fetter, alter Mann und taxiert mich von oben bis unten. «Was?!?», blaffe ich ihn an. Er bellt empört etwas von «chan aneluege won ich will». Da hat er natürlich recht. Kann er. Muss ich aber nicht klaglos hinnehmen. Der schönste Satz diesbezüglich stammt von Melanie Winiger im Film «Achtung, fertig, Charlie!», als ein Typ sie nackt unter der Dusche überrascht: «Lueg no tümmer!»

Ab etwa Vierzig bekommt eine Frau darauf wahrscheinlich zu hören, sie könne froh sein, schaue sie überhaupt noch einer an. Sind zuweilen unzimperlich, die Männer von heute, lassen sich nichts bieten. Simple Höflichkeit ist auf der Strecke geblieben, liegt gleich neben dem Anstand in einem Rinnstein beim Respekt. Beschwert man sich, weil einem ein Kerl im Tram, in der Migros oder an der Club-Kasse zu dicht auf die Pelle rückt, heisst es: «Mach dir keine Illusionen, ich baggere keine alten Schachteln an.» Meine Standardantwort darauf: «Ich bin eher besorgt, dass Sie mir das Portemonnaie stehlen wollen, junger Mann.» Sorgt in der Regel für Ruhe. Schön sind solche Szenen dennoch nicht.

Die Alternative? Klappe halten.

Sonst steht man blöd da, in aller Öffentlichkeit. Lohnt sich ja nicht, wegen Lappalien, wegen einem Flegel. Und dann liesst man auf Facebook ein paar #MeToo-Geschichten und schlagartig ist sie wieder da, die Wut. Angesammelt und aufgestaut in Jahren, kommt sie mit einer Wucht hoch, über die man selber erschrickt. Prompt schnauzt man den nächsten an, der einem versehentlich anrempelt, reagiert aggressiv auf Blicke, mag nicht lachen, wenn ein älterer Herr beim Telefoninterview einen Witz macht: «Sie rufen mich schon wieder an, Fröllein, scheint mir, Sie plaudern lieber mit mir als mit ihrem Mann.» Auf mein Schweigen fragte er: «Haben Sie meinen Scherz nicht kapiert?» Ich war versucht zu sagen: «Doch, aber ich bin mit einer Frau verheiratet, nicht mit einem Mann.» Diesen Scherz hätte mit jeder Garantie er nicht kapiert, wetten? Und schliesslich bleibt man in einem geschäftlichen Gespräch höflich und tut, was man eigentlich nie mehr tun wollte: man lacht über einen saudummen Spruch. Ist ja nur ein älterer Herr, meint es nicht böse.

Konsequenz dieses Männchen-Gehabes einzelner:

Alle Frauen sind schnippisch und alle Männer stehen unter Generalverdacht. Die Typen wissen kaum mehr, wohin sie im Tram schauen sollen und trauen sich erst recht nicht, eine Frau anzusprechen – worüber sich die Frauen lauthals beschweren, ihrerseits in die Offensive gehen und damit die Männer endgültig überfordern, weil die sich nicht mehr als Männer fühlen können. Und ja, Frauen möchten erobert werden, daran hat sich in den letzten 150’000 Jahren nichts geändert und wer etwas anderes behauptet, lügt. Aber geht das nicht auch mit etwas Respekt?

Wer von den Pärchen in meinem Umfeld wen angebaggert hat, weiss ich nur zum Teil gesichert. Aber die Männer sind allesamt grossartige Typen, die hart arbeiten, sich fürsorglich um die Kinder kümmern, Wäsche aufhängen, kochen und Partnerschaften auf Augenhöhe führen. Soweit ich das beurteilen kann, gehen sie nicht fremd, sind anständig gegenüber Frauen und wenn sie mal eins über den Durst trinken, ist nicht nur gern die eigene Gattin dabei, sondern auch ich sowie weitere lustige Gesellen.

Warum also diese Welle von Wut auf Männer,

die in den letzten Wochen rund um den Globus so viele Frauen erfasste? Wegen Schweinepriestern wie Donald Trump und Harvey Weinstein. Familienväter beide, und der Inbegriff von allem, was Frauen an Männern hassen. Sie stehen stellvertretend für all jene, die sich uns gegenüber wie die letzten Neanderthaler verhalten.

Angefangen vom Lehrer, der uns im KV mit den Worten begrüsste, er freue sich, dass so viele Frauen in der Klasse sässen, so könnten wir später dem Mann das Büro machen. Über den Typen, den ich abblitzen liess und der dann vor mir zu seinem Kumpel sagte: «Ich wollte sie anflirten, aber ich kann nicht, sie stinkt, ich glaube, sie hat grad ihre Periode.» Und da war dieser Dreckskerl der versuchte, mich bei einer Wohnungsbesichtigung zu vergewaltigen. Ich kam nur ungeschoren davon, weil ich schlug, biss, trat, kratzte, tobte und schrie wie am Spiess. Hab ich es seiner Frau erzählt, ging ich zur Polizei? Natürlich nicht, so etwas tat man nicht 1981, es war ja nichts passiert. Immerhin in diesem Punkt ist etwas gegangen, in den letzten Jahren.

Der Chefredaktor, der mir beim Vorstellungsgespräch fast in den – nicht existierenden – Ausschnitt fiel, versteht sich als Frauenfreund. Ich habe sein durchaus interessantes Job-Angebot sicherheitshalber abgelehnt. Und bekam nie mehr eine solche Chance. Auch der ehemalige Big-Brother-Teilnehmer, der aus Wut über meinen Artikel in einem Brief an die gesamte Geschäftsleitung der Tamedia behauptete, ich hätte ihn während des Interviews sexuell belästigt, ist nicht nur glücklich verheiratet, sondern von sich überzeugt, ein grosser Verehrer der holden Weiblichkeit zu sein. Ich glaube, er hält sich für charmant. Gut, er denkt auch, er sei witzig. Gottseidank konnte die IT-Abteilung alle Mails wieder herstellen, die er mir vor und nach dem Gespräch geschickt hatte. Es waren etwa zehn pro Tag gewesen und ich hatte sie entnervt gelöscht. Dennoch musste ich eine schriftliche Rechtfertigung abgeben. Immerhin stärkte mir die damalige Verlagsleiterin den Rücken: «Weisst du», sagte sie, «spätestens als er schrieb, du seist schlampig und ungepflegt zum Interview erschienen, wusste ich, dass er lügt.»

Solche Übergriffe, Kränkungen, Demütigungen sind für Frauen Alltag.

Jede hat dutzende ähnlicher Geschichten auf Lager. Vom Fahrlehrer, der einem beim Rückwärtsfahren den Nacken krault, dem deutschen Schauspieler, der mir in einer Hotelbar die Zunge ins Ohr steckte oder dem indischen Hotelmanager, der vor uns zu unserer blonden Kollegin sagte: «Werde deine Freundinnen los, dann rufst du mich an und kommst wieder her. Hier meine Visitenkarte.»

Männern passiert das eher selten und darum ist unsere Wut für sie schwer nachvollziehbar. Darum kann auch ein Redaktor des «Tages-Anzeigers» finden, Frauen seien gegenüber der Donaldisierung und Weinsteinisierung etwas gar verbissen und humorlos und mehr Coolness und Selbstironie fordern. Der Mann weiss es nicht besser, weil er eben ein Mann ist. Bin ich cool und selbstironisch genug in diesem Text, Herr Büttner? Reagieren Sie cool und selbstironisch, wenn Ihnen einer mit schöner Regelmässigkeit, also etwa jede Woche, eine saftige Beule ins Auto rammt oder ihnen ständig das Vorderrad des neuen Velos klaut? Schön, das freut mich.

Was mich momentan erstaunt, um nicht zu sagen überwältigt,

ist die Solidarität der Männer mit uns wütenden Frauen. Unter dem Hashtag #Ihave beichten sie und geloben Besserung – und es waren zwei Frauen und ein Mann, die den Weinstein ins Rollen brachten: Judi Kantor und Megan Twohey am 5. Oktober 2017 in «The New York Times» und am 10. Oktober setzte Ronan Farrow im «The New Yorker» nach. Farrow ist pikanterweise der Sohn von Grüsel Woody Allen. Auch Männer haben langsam genug von Arschloch-Männchen.

In den 80er, 90er-Jahren hätte eine Trumpstein-Story in Gehässigkeiten und Grabenkämpfen zwischen Mann und Frau gemündet, es wäre das Ende des Waffenstillstands gewesen, der Geschlechterkrieg wäre neu entbrannt. Darum möchte ich mich ausdrücklich bedanken bei den Gorillas Trump und Weinstein. Ihnen gelang im Alleingang, woran Generationen von Feministinnen scheiterten: Frauen und Männer kämpfen Seite an Seite für Gleichberechtigung und gegen Sexismus. Also danke, Mister Pussy-Grabber und Herr Söiniggel, und jetzt haut ab, das Wort hat Mister Marley:

Song zum Thema:

Veröffentlicht in: Männer, Startseite Stichworte: #Ihave, #MeToo, Männchen, Trump, Weinstein
← Harvey ist überall
Fertig lamentiert, zeigen wir Eier →
  • Über Hi 55
  • Freunde
  • Facebook
  • Impressum

Blogeinträge

  • Analog funkts auch 22. Mai 2019
  • Schwarze Palmen 7. Mai 2019
  • Orientalische Note am ESC 23. April 2019
  • Der Swiss bin ich Wurst 2. April 2019
  • Armee Frauen 26. März 2019

Neueste Kommentare

  • SistaR bei Analog funkts auch
  • Winsti bei Analog funkts auch
  • sweetchicken1000 bei Schwarze Palmen
  • Rebekka bei Schwarze Palmen
  • Der Nachtwanderer bei Schwarze Palmen

Archiv

  • Mai 2019
  • April 2019
  • März 2019
  • Februar 2019
  • Januar 2019
  • Dezember 2018
  • November 2018
  • Oktober 2018
  • September 2018
  • August 2018
  • Juli 2018
  • Juni 2018
  • Mai 2018
  • April 2018
  • März 2018
  • Februar 2018
  • Januar 2018
  • Dezember 2017
  • November 2017
  • Oktober 2017
  • September 2017
  • Juli 2017

Copyright © 2022 Hi 55.

Lifestyle WordPress Theme by themehit.com